Chronischer Schmerz muss nicht sein – allerdings die Arznei die Richtige
Autor: Alexandra Grass
Fast zwei Millionen Österreicher:innen leiden unter chronischen Schmerzen. Von den ersten Symptomen bis hin zur Diagnosestellung vergehen der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG)1 zufolge durchschnittlich 2,5 Jahre. Und auch dann ist das Martyrium für viele Patient:innen noch nicht zu Ende. Denn rund 50 Prozent von ihnen sprechen nicht auf eine medikamentöse Therapie an oder zeigen Nebenwirkungen. Die Ursache dafür liegt in den Genen verborgen. Mutationen beeinflussen die Aktivität der wichtigsten Enzyme und Proteine für den Medikamentenmetabolismus. Mit der pharmakogenetischen Analyse (PGx) lassen sich diese aufdecken. Damit sind Tür und Tor für den Weg zur effektiven Therapie geebnet, die im Idealfall den Schmerz nimmt und damit den Patient:innen eine neue Art der Lebensqualität ermöglicht.
Akuter Schmerz gleicht einem Feueralarm, der einsetzt, sobald ein unmittelbarer Schaden vorliegt, und verklingt, sobald wir uns aus der Gefahrenzone befinden. Chronisch wird ein Schmerz dann, wenn er seine eigentliche Funktion als Warnsignal verliert und sich zu einem eigenständigen Krankheitsbild entwickelt. Aus vielerlei Gründen kann es zur Chronifizierung kommen: Entweder, weil der Schmerz über einen längeren Zeitraum unbehandelt bleibt, oder ungenügend behandelt wird. Seit 1. Jänner 2022 sind chronische Schmerzzustände in der ICD-11 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) von der WHO als eigenständiges Krankheitsbild verankert2 – dies tritt ein, wenn der Schmerz per Definition bereits mehr als drei Monate anhält. Soweit die Fakten.
Schmerztherapeutika sind keinesfalls unbedenklich
„Man muss die Genetik kennen, um Medikamente wirksam einsetzen zu können“, bringt Dr. Martin Pinsger, Leiter des Schmerzkompetenzzentrums in Bad Vöslau und Anwender des Tools PGx-Optimizer® von PharmGenetix, die Pharmakogenetik ins Spiel. Anämien, Hämolysen, Ausschläge oder auch Osteoporose als Nebenwirkungen sind in der Praxis keine Seltenheit. NSAR-Prodrugs (nicht steroidale Antirheumatika) wie Metamizol oder auch die scheinbar unbedenklichen Substanzen Acetylsalicylsäure und Paracetamol sowie die Prodrug Tramadol sind Grundbausteine in der Schmerztherapie3. Eine spezielle Mutation des Cytochroms CYP2C9 kann zu erhöhten Wirkspiegeln und damit zu toxischen Überdosierungen führen. Auch die oft in Kombination eingesetzten Protonenpumpeninhibitoren (PPI) als Magenschutz können bei bestimmten Genmutationen – hier ist etwa CYP2C19 relevant – zu erhöhten Wirkeffekten führen.
Die zwei Wege der Metabolisierung
Eine PGx-Analyse schon vor Therapiebeginn ist angesichts der individuellen Genetik der Patient:innen von Relevanz für eine erfolgreiche Behandlung. Wobei die Verstoffwechselung von Arzneimitteln – die Metabolisierung – auf zwei Wegen geschehen kann:
- Einerseits als Prodrugs – sie werden als inaktive Form verabreicht und erst durch Verstoffwechselung in der Leber aktiviert. Die dadurch entstandenen Metaboliten produzieren die gewünschte therapeutische Wirkung.
- Andererseits als aktive Substanzen – sie werden durch Metabolisierungsvorgänge von Enzymen in der Leber in inaktive Formen umgewandelt und in Folge abgebaut.
Bestimmte Mutationen oder Polymorphismen (genetische Varianten) rufen unterschiedliche Metabolisierungswege hervor – je nachdem, ob es sich um Prodrugs oder schon aktive Substanzen handelt. Diese Vorgänge können im ungünstigen Fall verlangsamt oder beschleunigt sein. Unterschieden wird zwischen vier Arten von Metabolisierern.
- Beim Normal Metabolizer (NM) wird die Substanz in beiden Fällen so verstoffwechselt, dass die erwünschte therapeutische Wirkung ohne erhöhte Nebenwirkungen zu erwarten ist.
- Beim Intermediate Metabolizer (IM) wird die Substanz in beiden Fällen vermindert metabolisiert. Damit steigt das Risiko für Nebenwirkungen.
- Beim Poor Metabolizer (PM) gilt es zu unterscheiden, ob es sich um eine Prodrug oder eine aktive Substanz handelt. Aktive Substanzen können, da sie beim PM langsamer abgebaut werden, kumulieren und dadurch einen toxischen Zustand – und damit Nebenwirkungen – hervorrufen. Bei der Prodrug hingegen lässt der therapeutische Effekt aus, da sie zu langsam aktiviert wird.
- Beim Ultra Rapid Metabolizer (UM) gilt es ebenso, zwischen Prodrug und aktiver Substanz zu unterscheiden. Werden aktive Substanzen schneller abgebaut und ausgeschieden, kann der therapeutische Bereich gar nicht erreicht werden, das Medikament zeigt sich als unwirksam. Werden hingegen Prodrugs vom UM besonders schnell aktiviert, führt dies zu sehr hohen Wirkspiegeln.
Das Paradoxon am Beispiel Metamizol
Metamizol, auch als Novalgin bekannt, ist ein häufig verschriebenes NSAR mit hohen analgetischen Eigenschaften. Obwohl es allgemein als sehr wirksam gilt, gibt es in verschiedenen Ländern unterschiedliche Umgangsformen mit dem Präparat. Während es aufgrund des Risikos, eine schwere Agranulozytose – also eine schwere Störung der Blutbildung – hervorzurufen, in Schweden, Norwegen, Dänemark, Frankreich, Großbritannien und Irland gar verboten ist, kann es in anderen Ländern – etwa Polen und Türkei – rezeptfrei erworben werden. In Österreich und Deutschland ist Novalgin rezeptpflichtig.
Welche Rolle die Genetik im Besonderen bei Metamizol einnimmt, zeigt eine im Fachblatt Pharmacogenetics and Genomics publizierte Studie4. Drei betroffene Patient:innen wurden einer pharmakogenetischen Untersuchung für CYP2C9, CYP2C19 und NAT2, die am Metazimol-Metabolismus beteiligt sind, unterzogen. Die Analyse ergab bei allen einen langsamen (Poor Metabolizer) NAT2-Acetylator-Phänotyp. Zudem ist eine Patientin zusätzlich ein Intermediate Metabolizer für CYP2C19 und eine weitere ein Poor Metabolizer für CYP2C9. Die Beeinträchtigung dieser drei Enzyme führt zu einem verminderten Abbau von toxischen Metaboliten. Die Metamizol-induzierte Agranulozytose dürfte der genetischen Prädisposition zugrunde liegen, heißt es in der Studie.
Kongress der Österreichischen Schmerzgesellschaft
„In unseren Breiten leben recht viele Menschen mit NAT2-intermediate oder poor-Metabolismus, wodurch Plasmaspiegel unverhältnismäßig stark ansteigen können“, gab Dr. Martin Pinsger im Rahmen des Workshops „Klinische Relevanz der pharmakogenetischen Analyse in der Schmerztherapie mit Fallbeispielen“ beim vom 6. bis 8. Juni 2024 in Villach stattgefundenen 30. Kongress der Österreichischen Schmerzgesellschaft5 zu bedenken. Rund 420 Teilnehmer:innen – vorwiegend aus dem Bereich Ärzteschaft und Pflege – haben daran teilgenommen.
Unverträglichkeiten minimieren – Wirksamkeit optimieren
Mittels PGx-Analysen wird der individuelle Phänotyp auf Basis des Genotyps bestimmt. In Folge kann der Arzt oder die Ärztin die Dosis von Medikamenten personalisiert abstimmen. Medikamentenunverträglichkeiten können damit minimiert und die Wirksamkeit von Medikamenten optimiert werden, betont Dr. Cornelia Flasch-Polly, wissenschaftliche Leiterin von PharmGenetix.
Wann ist eine PGx-Analyse sinnvoll?
- Als Grundlage immer – sie ist zudem ein Leben lang gültig
- Bei unerwünschten Arzneimittelwirkungen
- Bei psychiatrischen Krankheitsbildern
- Bei chronischen Erkrankungen aller medizinischer Fachbereiche
- Bei Unsicherheit im Rahmen einer neuen Medikation
- Wenn man wissen möchte, ob Medikamente, die in die aktive Form umgewandelt werden müssen, überhaupt wirken
Fazit
Therapieresistenz bei Schmerzpatient:innen ist ein Mythos. Die richtige Zusammensetzung für ihre Medikation wurde nur noch nicht gefunden. Eine PGx-Analyse ermöglicht, eine alte Medikation zu optimieren und die passende Schmerztherapie einleiten zu können. Die Patient:innen ersparen sich damit die unnötige und potenziell gefährliche Trial and Error-Methode.